Test Royal Enfield Hunter 350 2022

Das neue Roadster-Modell von Royal Enfield

Royal Enfield erweitert seine 350-Kubik-Mittelklasse um die Hunter 350, ein waschechtes Roadster-Modell, das eine breite und jüngere Zielgruppe ansprechen soll. Wir waren bei der Weltpremiere in Bangkok und können schreiben: Die Hunter 350 bietet richtig viel Motorradlifestyle auf sehr charmante Art und Weise.

Machen wir uns nichts vor, der Motorradfahrer wird immer älter. Speziell in Europa. Wenn die Motorradindustrie in auch noch in 15 Jahren Bikes verkaufen will, müssen schleunigst die "Jungen" erobert und in den Sattel setzen. Wie sehr das ein europäisches Problem ist, haben wir im Rahmen der Weltpremiere der neuen Hunter 350 in Bangkok gesehen, wo Royal Enfield der älteste durchgehend produzierende Motorradhersteller der Welt sein neues Roadster-Modell mit gigantischem Aufwand vorgestellt hat. In Indien, dem Heimatmarkt von Royal Enfield, hat man rund 80-85 Prozent Marktanteil und es gilt fast als Blasphemie, ein anderes Motorrad zu fahren. Und dort ist eine luftgekühlte 350er nicht so wie bei uns ein Nischen- oder Einsteigermodell, sondern ein soziales Statement, ein Statussymbol: "Schaut her, ich bin der niedrigen 125er-Kaste entkommen und bin jetzt wer!"

Das Royal Enfield Geschäftsmodell

Bevor wir näher auf die neue Hunter 350 eingehen, ein kurzer Exkurs in die Royal Enfield Welt: Mit drei Fabriken könnte der jetzt indische (früher britische) Hersteller bis zu einer Millionen Motorräder im Jahr produzieren. 2021 setzte man knapp über 620.000 Stück weltweit ab, davon alleine 550.000 in Indien. Chief Operation Officer Siddhartha Lal sprach bei der Vorstellung in kleiner Runde auch zu uns Journalisten und erklärte in wenigen Sätzen das Geschäftsmodell: "Wir produzieren nur Modelle, die auf unserem Heimatmarkt Relevanz haben und auch weltweit Kunden finden. Hat es in Indien keine Relevanz, machen wir es nicht." Das ist eine klare Ansage. Der zweite Geschäftsgrundsatz: Attraktive Preise durch Skaleneffekte. Wer 100.000 und mehr Stück eines Motorrads fertigen kann, kann ganz anders einkaufen und kalkulieren. Daher sind viele Royal Enfield-Modelle bei uns in Europa auch vergleichsweise preiswert. Es gibt in unseren Breiten Modelle aus China, die spürbar teurer sind und oft nicht diese Verarbeitungsqualität aufweisen wie viele Royal Enfield-Modelle. Und ein drittes wichtigstes Standbein in der Royal Enfield-Strategie: Zugänglichkeit. "Unsere Motorräder zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf jede Weise sehr zugänglich sind", sagt Lal und meint damit sowohl die Fahrbarkeit, die Bedienung und nicht ausgesprochen natürlich auch einen attraktiven Preis.

Die neue Hunter 350

Wenn man das einmal verstanden hat, dann merkt man sofort, was für ein schlüssiges Konzept die neue Hunter 350 ist. Mit der Classic 350 und der Meteor 350 hat die Baureihe bereits zwei Schwestermodelle am Markt, die die 1000PS-Redaktion überzeugen konnte. Die Hunter 350 erweitert die Zielgruppe in verschiedene Richtungen: Als Roadster-/Nakedbike-Modelle deckt man sowohl optisch wie fahrdynamisch einen breiten Kundenpool ab. Während die Classic 350 ein ideales Retrobike ist und die Meteor 350 ein preiswerter Chopper, kommt nun die Hunter 350 und mischt die breite Mitte ordentlich auf. Und wer glaubt, dass die Hunter 350 nur eine Zusammenwürfelung aus Classic- und Meteor-Teilen ist, der irrt gewaltig. Laut Royal Enfield ist die neue Hunter 350 eine komplette Neukonstruktion. Schaut man genauer hin, erkennt man aber durchaus Ähnlichkeiten zu den Schwestern. Aber der Reihe nach.

Hunter 350 – der Motor

"Wir fingen bei einem weißen Blatt Papier an. Wir wussten nur: Der 350er-Motor soll das Herz der neuen Hunter bilden", heißt es bei der Präsentation. Daher die erste Erkenntnis: Der Motor der Hunter 350 ist technisch zu 100 Prozent baugleich mit denen von Meteor und Classic 350. Auch das 5-Gang-Getriebe ist unverändert geblieben. Die Eckdaten in Zahlen: 349 Kubikzentimeter Hubraum, 20,2 PS Spitzenleistung, 27 Nm Drehmoment, luftgekühlt, Zweiventiler, Langhuber. Einzig: Um das Ansprechverhalten der Hunter etwas spritziger zu machen, wurde das Mapping durch Eingriffe in Zündung und Einspritzung angepasst. Das Ergebnis ist ein weicher Motorlauf, schön direkt aber nicht nervös am Gas, tolle Dosierbarkeit und - zu unserer Überraschung - ein richtig dumpfer, cooler Sound aus der Serienauspuffanlage. Trotz Euro 5-Norm. Der Topspeed wird mit 114 km/h angegeben - das können wir nach unserer Testfahrt bestätigen. Der dezentrale Rundtacho ist jedoch bis 160 km/h skaliert. Da dürfte der Designer etwas zu euphorisch gewesen sein.

Komplett neues Chassis für die Hunter 350

Der Rahmen, die Geometrie, die Abstimmung der Federung und die Räder sind jedoch komplett neu. Der neue Rahmen ist steifer und für ein dynamischeres Handling konzipiert worden. Dazu gesellen sich erstmals in der Royal Enfield-Geschichte 17 Zoll-Räder vorne und hinten. Darauf werden 110/70-R17 Reifen vorne und 140/70-R17 hinten aufgezogen. Serienmäßig kommt die neue Hunter 350 mit Ceat Zoom XL-Reifen. Laut unserer Info steht hinter Ceat der italienische Hersteller Pirelli. Die Reifen sind übrigens auch Neuentwicklungen. Durch die 17-Zoll-Bereifung, den kürzeren Radstand (1.370 Millimeter) und vor allem das deutlich niedrigere Gewicht (181 Kilogramm fahrfertig, vollgetankt, Werksangabe) gepaart mit der etwas mehr vorderradorientierten Sitzposition, ist die Hunter eindeutig die dynamischste der drei Schwestermodelle. Die etwas straffere Federungsabstimmung passt gut zum nachgeschärften Chassis. An der Front arbeitet eine nicht verstellbare 41-mm-Telegabel mit 130 Millimeter Federweg, am Heck kommen ganz klassisch nicht verstellbare Stereofederbeine zum Einsatz, die 102 Millimeter Federweg bieten. In Sachen Bremsen vertraut man auf die Hardware, die wir schon aus der Meteor 350 kennen: 300 Millimeter-Einzelscheibe vorne, Zweikolbensattel, hinten 270 Millimeter mit Einkolbensattel.

Fahreindruck Hunter 350– so einfach kann es sein

Bereits die Eckdaten machen klar: Die neue Hunter 350 ist kein High-Performance-Brenner, sondern ein urbanes Alltagsbike. Die 20,2 PS sind dank der langhubigen Auslegung des Motors und durch die 27 Newtonmeter Drehmoment durchaus spaßig zu bewegen. Die tolle, weiche Abstimmung und Gasannahme machen es dem Pilot sehr, sehr leicht die volle Leistung in jeder Lebenslage abzurufen ohne jemals nur im geringsten Ausmaß überfordert zu sein. Da vermisst man auch keine verschiedenen Modi oder sonst was. Bis 80 km/h zieht die Hunter 350 leistungsgerecht durch, danach wird es spürbar schwerer den Luftwiderstand zu überwinden. Alles über 100 km/h ist dann nochmal spürbar zäher. Oder anders gesagt: Autobahnen kann man mit der Hunter 350 befahren, aber es ist nicht ihr bevorzugtes Revier. Es ist die Stadt und die Langstraße, wo das neue Roadster-Modell genau den Sweetspot zwischen Meteor und Classic findet. Absolut narrensicher, einfach und jederzeit berechenbar wedelt man mit der Hunter durch den Stadtverkehr oder die Radien auf der Freilandstraße. Ist man in Geschwindigkeitsbereichen bis ca. 80 km/h unterwegs, vermisst man nur selten ein Mehr an Leistung. Denn die Hunter lädt nicht zum Heizen ein, sondern zum aktiven aber auch bewussten Motorradfahren, ohne Rekorde aufstellen zu müssen. Das Motto lautet: Genuss vor Bestzeit! Die vom Management beschworene Zugänglichkeit ist wirklich gegeben. Egal ob Anfänger oder Bike-Veteran, auf der Hunter 350 findet man sich sofort zurecht und wohl. Sie gibt einem überhaupt keine Rätsel auf, sondern fährt genau so, wie man es sich vorstellt: locker, agil, sicher und entspannt. Das gilt auch für die Bremse: Weder bissig noch lasch, sondern einfach lässt sie sich bedienen und beißt genau in dem Maß zu, wie es für dieses Segment sein soll: Nicht zu aggressiv beim ersten Hebelzug, aber bestimmt genug, um sowohl vorne wie hinten das ABS auslösen zu können. Bei unserer Testrunde durch Bangkok hat sich gezeigt, dass man innerstädtisch bei vorausschauender Fahrweise fast nur die Hinterradbremse braucht. Die lässt sich ebenfalls tadellos dosieren, bietet aufgrund der Gewichtsverteilung eine gute Bremskraft und in Verbindung mit der Motorbremswirkung ist man kaum versucht, den Bremshebel mit den Fingern zu ziehen. Ist man flotter unterwegs, braucht es aber den vorderen Anker. Überraschend ausbalanciert präsentiert sich das Fahrwerk: Bei niedrigen Geschwindigkeiten überraschend fein ansprechend und sanft in der Weitergabe von Unebenheiten, wird das Heck erst bei für die Hunter 350 hohen Geschwindigkeiten etwas unpräzise und fängt an kurze Schläge direkt weiterzugeben und nachzuschwingen. Aber das ist jener Bereich, wo man die Hunter mehr prügelt als bewusst fährt - und daher geht das in Ordnung. Die Gabel bleibt auch beim plötzlichen Ankerwurf an der Front überraschend lange stabil, bevor sie dann doch irgendwann etwas mehr einsackt. Hier muss man Royal Enfield wirklich ein Kompliment machen: Ähnlich wie Classic 350 und Meteor 350 wurde ein einfaches, selbsterklärendes und trotzdem feines Fahrverhalten entwickelt - mit vergleichbar einfachen Mitteln. Respekt.

Hunter 350 – die Optik

Optisch präsentiert sich die neue Hunter 350 absolut zeitlos. Das typische Royal Enfield-Design wurde in seinen Grundzügen übernommen, aber mit neuen Farb- und Grafikelementen geschickt modernisiert. Sechs verschiedene Designs (Lackierungen) stehen für Europa zur Auswahl. Darüber hinaus gibt es noch ein breites Portfolio an Originalzubehör wie zwei weitere Sitzbänke (Originalsitzhöhe: 790 mm), zwei Motorschutzbügel, ein Kofferset, LED-Blinker, einen Windschild und mehr. Der dezentrale Rundtacho bietet alles bis auf einen Drehzahlmesser den vermisst man bei der Hunter 350 aber nicht. Der Motor zeigt einem sehr eindeutig, wann man schalten sollte. Optional gibt es als Zusatzinstrument noch die Turn-by-turn-Navigation. Aufgrund des aktuellen, weltweiten Chipmangels ist es ein Extra geworden, welches sich aber sehr stimmig in das Cockpit integrieren lässt. Ein winziges Manko ist uns aufgefallen: Um die Sitzbank demontieren zu können, muss man rechts unterhalb der Sitzbank die Seitenverkleidung mittels Zündschlüssel demontieren, um die Sitzbank dann per Kabelzug entriegeln und abnehmen zu können. Na, wenn es weiter nichts ist! Die Verarbeitung und Beschichtungsqualität entsprechen Bikes eines deutlichen höheren Preissegments. Da merkt man erst, welche Qualitätsvorteile sich durch den eingangserwähnten Skaleneffekt erzielen lassen.

Fazit: Royal Enfield HNTR 350 2023

Beide Schwestermodelle konnten uns schon überzeugen, so auch die Hunter 350. Das Preis-Leistungsverhältnis ist äußerst attraktiv. Fahren mit der Hunter ist so einfach und unkompliziert - toll. Der einzige Kritikpunkt, wo man ansetzen könnte, ist die überschaubare Motorleistung. Daher wird sie wohl für viele eher ein emotionales Zweit- oder Drittbike sein. Aber eines, welches man sehr gerne bewegt, da man bestimmt viele Blicke auf sich zieht und schnell merkt: Manchmal ist weniger auch tatsächlich mehr. Und: In Europa ist die Hunter 350 derzeit konkurrenzlos.


  • extrem einfaches, gutmütiges Fahrverhalten
  • gute Verarbeitung
  • zeitloses Design
  • feine Motorabstimmung
  • voluminöser Sound
  • wenig Topspeed für Autobahnen
  • überschaubare Spitzenleistung

Bericht vom 10.08.2022 | 51.324 Aufrufe

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