Als im Winter 1926 eine Frau 2000 km mit 2,5 PS bewältigte
Vor einem Jahrhundert mit dem Motorrad von Berlin nach Birmingham
Vor knapp hundert Jahren bricht in Berlin eine junge deutsche Sportlerin mit ihrem alten Motorrad auf. Es ist Winter, trotzdem will sie bis ins englische Birmingham fahren. Es handelt sich um eine heftige Reise für die damalige Zeit und Susanne Koerner ist die erste Frau mit dieser Idee. Das ist ihre Geschichte.
Zwar war der Motorradsport leider von Anfang an schwer männlich dominiert, dennoch konnten sich von Anfang an auch einige Damen nicht der Faszination entziehen. Genaues ist zu den meisten Bikerinnen des letzten Jahrhunderts nicht mehr bekannt, nur von einigen spektakulären Fahrten sind noch Details bekannt. Susanne Koerner ist eine dieser Pionierinnen, die sich vor knapp über 100 Jahren von Berlin nach Birmingham aufgemacht hat. Diese Strecke mag heute nicht mehr allzu spektakulär klingen, doch im Dezember 1926, mit deutlich schlechteren Straßen, klapprigen Motorrädern und in Abwesenheit moderner Navigationshilfen war diese Reise eine ganz andere Hausnummer. Vergleicht man Koerner mit anderen bekannten Motorradfahrerinnen, wie Elspeth Beard oder Bessie Springfield, die beide erst einige Jahrzehnte später mit ihren Zweirad-Aktivitäten für Aufsehen sorgten, sieht man erst, was für eine Pionierin Koerner war.
Mit 2,5 PS gen Westen - Susanne Koerners Abenteuer beginnt
"Es ist ein weiter Weg Berlin Birmingham durch fünf Länder im Winter bei schlechtem Wetter und ohne Begleitung; schwierig immerhin für eine Dame hielt man mir entgegen, jedoch gut trainiert, mit vielen Erfahrungen, eine gute Maschine unter mir, die Zusage der Unterstützung des D.M.V., vorzüglich ausgerüstet und mit allen erforderlichen Papieren verschen, zerstreute ich alle Bedenken und startete am 1. Dezember »Avus« um 9 Uhr früh.", erzählt Susanne Koerner im 1927 erschienen Magazin "Echo-Continental". Sie schildert ein Jahr nach ihrer Fahrt von den widrigen Umständen denen sie und ihr "Avus" getauftes Bike trotzen mussten. Sie ist allein auf dem englischen Dunelt Model K Lightweight unterwegs. 2,49 PS aus dem 250cc Zweitakter-Einzylinder sind alles, was sie den weiten Weg bis ins Herz der britischen Motorradindustrie in Birmingham befördern soll, um dort die Weihnachtsferien zu verbringen. Unterstützung bekommt sie auf ihrer Reise von Continental und einigen Automobil-Klubs.
"In Potsdam erwartete mich der Deutsche Damen »Automobil-Klub, dessen Abzeichen ich führte neben dem des D. M. V., um die Zeiteintragung als erste Korporation in mein Logbuch zu bewirken. [...] Wohl empfangen von dem Vertreter der dortigen Ortsgruppe, beglaubigt und auf den rechten Weg gebracht, begann ich die Weiterfahrt auf Hannover zu; ich erreichte es auf guten Straßen mit ganz unglaubwürdig gesittetem Fuhrwerksverkehr mit einem kleinen Zwischenfall. Um die richtige Einfahrt zu finden, mußte ich bei früh eingebrochener Dunkelheit einen Wegweiser mit Hilfe meines Rades als Leiter und mit meiner Taschenlampe konsultieren."
Schlechte Straßen, tückische Steigungen und die richtigen Reifen - Susanne Koerner und Continental-Reifen
"Um die Mittagszeit kam ich an die belgische Grenze Mouland. Leider hatte ich hier drei Stunden Aufenthalt, so daß ich erst mit Einbruch der Dunkel: heit und zwar mit dem letzten Tropfen Benzin in Lüttich ankam. Ohne hier etwas zu essen, wurde schnell Öl und Brennstoff genommen; zum Umschauen war leider nicht mehr viel Zeit. Am Ausgang der Stadt be- gann die bekannte endlose Steigung. Hier liegt eine Straßenbahnschiene neben der anderen, Kohle» und Sandschmiere bedeckt sie, ich trudelte bei Regen und Gegenwind von einer Straßenseite auf die andere, zum Glück ohne mich dabei hinzulegen. Das ging natürlich ein bischen an die Nerven, zumal es stockdunkel war; zuweilen spürte ich in beiden Händen einen Krampf. Aber alle Leiden waren vergessen, als in der Ferne die bunten Reklamelichter Brüssels auftauchten."
Die Tage sind geprägt von schlechtem Wetter und fragwürdigen Fahrbahnbedingungen. Susanne Koerner überwindet jedoch Hindernis um Hindernis und erreicht am 3. Dezember Brüssel. Interessant ist, das Koerner schon 1926 auf Continental-Reifen setzt. Das 1871 gegründete Unternehmen ist auch schon damals mit Pferd, Fahrrad, Motorrad und Automobil auf alles, was die Menschen in Bewegung bringt, spezialisiert. Je weiter Koerner in noch vom ersten Weltkrieg gezeichnete Landstriche vordringt, desto schwieriger wird es für sie und die Reifen: "um 10 Uhr machte ich mich auf den Weg nach Gent. Wieder begleitete mich Sturm und Regen. Jetzt hieß es: »lerne fahren ohne zusammenzubrechen. Die Straßen waren eigentlich keine Straßen, die durch zerschossene und neu aufgebaute Orte führten. Als ob sie in Drachenblut getaucht, blieben meine neuen »Conti-Pneus« unverwundbar. In Gent kam ich um 12 Uhr mittags an. Als ich auf der Polizei um Beglaubigung meiner Fahrzeit bat, machte man sich einen Spaß, als ob man mich einsperren wollte, weil ich ja wie ein Landstreicher aussah, denn die Schmutzkruste auf meinem Zeug war mittlerweile zentimeterdick geworden."
Ankunft und Action in England
Auf rustikalen Wegen geht es für Susanne durch das kriegsgezeichnete Westeuropa weiter. "Calais mußte heute pünktlich erreicht werden wegen des nur mittags abfahrenden Kanalbootes. Ich hatte die französische Grenze zu überschreiten, und bis dahin sei die Straße nicht besonders gut, sagte man mir. Sie übertraf in der Tat alles, was ich bisher erlebt hatte. Ihre scharfkantigen Schlaglöcher setzten meinen armen Reifen, mir und meiner Maschine grausam zu, und ich kann heute noch kaum begreifen, wie meine »Conti-Reifen« diese Tour aushielten, ohne abzublasen."
Koerner schafft es rechtzeitig zur Fähre und wird in England von Schaulustigen und Journalisten empfangen. Motiviert durch die Nähe ihres Ziels presst sie voran, müht sich durch den schon damals chaotischen Verkehr Londons und trifft nur wenige Kilometer vor dem Ziel auf die letzte Herausforderung. "Etwa 2 Meilen vor Coventry geriet ich in den gefürchteten englischen Nebel, der dick wie Watte sich wie eine weiße Wand vor mir aufbaute. Es war unmöglich, die Breite der Straße zu erkennen, und einmal wäre ich beinahe auf ein Auto aufgefahren, dessen rotes Schlußlicht erst im letzten Moment sichtbar wurde. Ich benutzte es als Schrittmacher. Diese Nebelfahrt war eine harte Arbeit." Schlussendlich schafft sie es jedoch ohne größere Zwischenfälle an ihr Ziel und nimmt damit in den viel zu wenig beachteten Reihen der Motorrad-Pionierinnen Platz. In sechs Tagen heizte Susanne Koerner mit ihrer Continental-bereiften Kompressor-Zweitakt-Dunelt die 2000 Kilometer von Berlin nach Birmingham. Heute eher ein Katzensprung, vor 95 Jahren mit einem Durchschnittstempo von 40 bis 50 Stundenkilometern jedoch eine echte Herausforderung für Mensch, Material und Maschine.
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GREGOR
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