Royal Enfield baut das erste Motorfahrrad nach

Project Origin

Royal Enfield hat auf der EICMA mit der Vorstellung des "Project Origin", einem originalgetreuen, funktionierenden Nachbau des ersten "Motorrads" der Marke präsentiert.

Seit 1901 produziert Royal Enfield bereits Motorräder, oder eben motorbetriebene Fahrräder. Da 2021 das 120-jährige Jubiläum zu feiern ist, wollte man sich den eigenen Wurzeln bewusst werden. Und das war gar nicht so einfach...

Royal Enfield muss ein defacto unbekanntes Motorrad konstruieren

Die Idee zum "Project Origin" entstand, nachdem Gordon May, der Unternehmenshistoriker von Royal Enfield, die Design- und Ingenieur-Teams von Royal Enfield vor eine schwierige Aufgabe gestellt hatte. Diese drehte sich um den allerersten Prototypen eines Royal Enfield Motorfahrrades, das 1901 gemeinsam von dem Franzosen Jules Gobiet und dem Mitbegrunder und Chefdesigner von Royal Enfield, Bob Walker Smith, entwickelt wurde.

1901 wurde der erste Prototyp in London präsentiert, bisher wurde aber noch kein funktionierendes Modell dieses ursprunglichen Motorfahrrades gefunden. Es gab keine existierenden Bauplane oder technischen Zeichnungen, die brauchbare Hinweise auf die Konstruktion des Motorfahrrades hatten geben konnen. Alles, was es gab, waren ein paar zeitgenossische Fotografien, einige Werbeanzeigen und ein paar illustrierte Zeitungsartikel von 1901. Der Umfang der Informationen, auf die man sich stutzen konnte, war bestenfalls sparlich, aber das machte die Aufgabe, die dem Royal Enfield Team gestellt worden war, umso spannender - konnte der allererste Teil der Royal Enfield DNA zur Feier eines so bedeutsamen Jubilaums rekonstruiert werden?

Royal Enfield Motorradbau aus einer anderen Zeit

Schnell wurde ein Team von Royal Enfield Volontaren zusammengestellt, das eine beinahe unmögliche Recherche startete. In Zusammenarbeit der Teams in den technischen Zentren von Royal Enfield UK und Indien sowie mit Harris Performance und anderen Experten aus der Motorrad-Oldtimer-Community nahm die Schatzsuche nach allen Teilen des Konstruktions-Puzzles an Fahrt auf.

Es war von Anfang an vollig klar, dass Aspekte wie die Mechanik, Technik und Ergonomie heutzutage längst überholt waren. Einer der offensichtlichsten Unterschiede bestand in der Einbaulage des 1,75 PS Motors, der uber dem Vorderrad am Lenkkopf befestigt war und das Hinterrad uber einen langen, uberkreuzten Rohleder-Riemen antrieb. Im Gegensatz zu den meisten anderen Motoren war das Kurbelgehause der Royal Enfield horizontal geteilt. Dies verhinderte die Folgen, die auf das Vorderrad tropfendes Ol aus undichten, vertikal geteilten Kurbelgehausen haben konnte.

Royal Enfield Project Origin Pläne
Fotos waren der einzige Anhaltspunkt für die Rekonstruktion.

Die Technik des Royal Enfield Motorfahrrads

Trotz des Fehlens jeglicher technischer Unterlagen, konnte viel über die Technik des Motorfahrrads herausgefunden werden:

"Ein Longuemare-Spruhvergaser befand sich an der Seite des Benzintanks etwas unterhalb des Zylinderkopfes des Motors. Eine zweite Zufuhrung zweigte vom Auspuff ab und verlief um die Mischkammer des Vergasers herum, um den Kraftstoff zu erwarmen und so eine Vereisung zu verhindern. Bei der Schmierung handelte es sich um eine Verlustschmierung: der Fahrer spritzte uber eine Handolpumpe, die sich auf der linken Seite des Zylinders befand, eine Ladung Ol in das Kurbelgehause. Dieses verbrannte nach 15 bis 25 Kilometern, woraufhin eine weitere Ladung Schmiermittel erforderlich wurde. Der Zylinderkopf beherbergte ein mechanisches Auslassventil und ein automatisches Einlassventil. Das Einlassventil wurde durch eine schwache Feder geschlossen gehalten und durch Unterdruck geoffnet. Sobald sich der Kolben im Zylinder abwarts bewegte, offnete sich das Einlassventil, so dass eine Ladung Luft-Kraftstoff-Gemisch in den Zylinder gelangte. Ein Unterbrecher an der steuerungsseitigen Achse loste eine Schwingspule aus, die eine schnelle Folge von Impulsen an die Zundkerze sandte. Dies fuhrte zu einer guten Verbrennung trotz sehr niedriger Drehzahlen."

"Das Starten der Maschine erforderte die Betatigung der Fußpedale, und sobald der Motor zundete, wurde der Vergaser per Handhebel auf der rechten Seite des Benzintanks von der Leerlaufstellung bis zur Vollgasstellung geoffnet. Es gab keine Drosselklappe - die Geschwindigkeit wurde durch einen Ventilstoßel reguliert, der mit einem Hebel am Lenker geoffnet wurde. Um zu verlangsamen, betatigte der Fahrer diesen Ventilstoßel. Dadurch wurde das Auslassventil geoffnet, und weil nun kein Unterdruck mehr im Zylinder herrschte, blieb das automatische Einlassventil geschlossen, und es stromte kein Luft-Kraftstoff-Gemisch in den Zylinder. Sobald der Fahrer das Auslassventil schloss, offnete sich das Einlassventil und der Motor zundete wieder. Daher konnte ein Beobachter denken, dass der Motor periodisch aussetzte, obwohl der Fahrer lediglich seine Geschwindigkeit veranderte."

"Das Vorderrad verfugte uber eine Bandbremse, die mittels Bowdenzughebel und -kabel mit der linken Hand des Fahrers betatigt wurde. Das Hinterrad verfugte ebenfalls uber eine Bandbremse, die jedoch durch Ruckwartstreten der Pedale betatigt wurde. Der Sattel war ein Lycette La Grande aus Leder und die 26-Zoll-Rader waren mit 2x2-Zoll-Clipper-Reifen ausgestattet. Das Royal Enfield Motorfahrrad kostete genau 50 Pfund, was in heutigem Geld umgerechnet 4.000 Pfund/4.745 Euro entspricht."

Am Computer wurde das Project Origin vollständig vorkonstruiert.
Am Computer wurde das Project Origin vollständig vorkonstruiert.

Die Fertigung des Project Origin war nicht einfach

Mit all diesen zusammengetragenen Hintergrundinformationen lag es dann in der Verantwortung des "Project Origin"-Teams, eine originalgetreue Nachbildung zu konstruieren. Als der Bau Gestalt annahm, wurde schnell deutlich, wie viel handwerkliches Geschick und Fachwissen fur die Herstellung bestimmter Teile des Motorrades erforderlich waren. Eines der komplexesten Elemente war die Konstruktion des gefalteten Messingtanks, der in Handarbeit aus einem einzigen Messingblech gefaltet, geformt, gehammert und gelotet wurde, wobei uralte Werkzeuge und Techniken zum Einsatz kamen, die in der modernen Fertigung von heute nahezu in Vergessenheit geraten sind.

Der Rohrrahmen des Motorfahrrades wurde vom Harris Performance Team aus Messing gefertigt, ebenso wie eine Reihe von handgearbeiteten Messinghebeln und -schaltern. Der Motor wurde von Grund auf neu gebaut, und da es keine Entwurfe oder technischen Diagramme gab, auf die man sich beziehen konnte, musste das Team die wenigen verfugbaren Fotos und Illustrationen von 1901 genau studieren, um CAD-Entwurfe fur jedes Bauteil zu entwickeln, die dann entweder einzeln von Hand gegossen oder aus einem Block gefrast wurden.

Royal Enfield Project Origin Rahmen
Die Fertigung des Rahmens bei Harris Performance

Außerdem drechselte das Team die Holzgriffe von Hand, fertigte die vorderen und hinteren Bandbremsen und ließ den Vergaser vollstandig neu bauen. Die beschafften Originalteile aus der Zeit der Jahrhundertwende, wie die Petroleumlampe, die Hupe, der Ledersattel, die Rader, wurden alle generaluberholt und vernickelt, um den Eindruck zu erwecken, dass es sich um ein Original aus 1901 handelt.

Bericht vom 25.11.2021 | 15.826 Aufrufe