Aprilia RSV4 RF 2017 Test

201PS-V4-Akrapovic-Rakete

Das "andere" italienische Superbike oder DAS italienische Superbike? Wenn 201 V4-Pferde durch die Akrapovic-Röhre brüllen, bleibt keine Hose trocken. Che spettacolo!

Ein Tag im Leben… Wecker um 04:15, Abfahrt 04:30, Abflug 06:30. Linate-Cremona mit Mietwagen laut Navi 1:30h, Ankunft nach 2:30h (Navi war schuld!). Technische Präsentation vor dem Aprilia Racing Truck, Mittagessen, erste Testsession 14:00, Kies, letzte Testsession 17:30, Rückflug 21:15, Licht aus um 00:00. Ungeduscht.

Gleiche Leistung, höhere Maximaldrehzahl

War es das wert? JA, verdammt!!! Ein italienischer V4 ist es immer wert, gefahren auf einer Rennstrecke, die eigentlich viel zu klein ist für 201 PS, aber welche ist das nicht? Trotz EURO4 verspricht Aprilia keine Leistungseinbußen bei Leistung und Drehmoment, das bei 115 Nm sein Maximum erreichen soll. Der Motor dreht zudem um 300 Touren höher, auch wegen neuer, leichterer Kolben. Der Limiter macht bei 14.400 U/min. zu, der Schaltblitz löst standardmäßig bei 200 Touren darunter aus. Ein neues Steuergerät macht die variablen Ansaugtrichter überflüssig, wodurch ein halbes Kilo eingespart werden konnte, beim Drosselklappenkörper sogar fast 600 Gramm.

Beim Starten stockt der Atem

Schon alleine das Aufröhren des Motors beim Starten war es wert, das können sonst nur Sportwagen aus Modena oder SantAgata Bolognese. Am Rande sei allerdings erwähnt, dass ein Verstärker der Marke Akrapovic auf unseren Testmotorrädern montiert war. Ich hätte den ganzen Tag an der Boxenmauer stehen und dem sonoren Schnarren der Motori lauschen können und wäre glücklich wieder heimgefahren. Die Serienanlage klingt deutlich ziviler und sieht auch so aus, warum spezielle die Endtöpfe von Superbikes wieder solche Ausmaße angenommen haben, zeige ich im Video.

Die RSV4 RF ist kein Spielzeug

Bei allem Spaß: Spielzeug ist die RSV4 RF keines. Besonders auf einer Schnellballer-Strecke wie dem Cremona Circuit musst du mit Birne und Body immer voll dabei sein, auch wenn dir im Würgegriff zwischen brutaler Beschleunigung und stengster Verzögerung die Luft wegbleibt. Man muss irgendwie die Balance zwischen bestimmten Befehlen und sanften Impulsen finden, sonst zickt die RSV ein bisschen. Die Front wirkte beim Rausbeschleunigen und auf der Start-Ziel-Geraden, auf der man immerhin ca. 250 km/h erreicht, als hätte sie es eiliger als ich. Ich legte mich dann weit nach vorne gestreckt über den Tank und duckte mich unter das Windschild, um mehr Druck auf das Vorderrad zu bekommen, das von einer verbesserten, leichteren und fein abgestimmten Öhlins-NIX-Gabel geführt wird. Zusammen mit dem TTX-Federbein mit neuer, rot gefärbter Umlenkung bewies das Fahrwerk einmal mehr, warum man vom Schwedengold spricht.

Geschmiedete Felgen nur an der RSV4 RF

Exklusiv an der RF-Version finden sich auch geschmiedete Felgen, ebenfalls gerötet, auf denen Pirelli Diablo Supercorsa SC1 montiert waren; vorne im Format 120/70-17 und hinten in 200/55-17. Das Gesamtpaket inklusive der erweiterten und aufgewerteten Elektronik verführt selbst den charakterlich gefestigten, erfahrenen Fahrer schnell zum Übertreiben. Gelernt habe ich vor allem, dass man IMMER darauf achten sollte, welche Einstellungen der Fahrhilfen gerade aktiv sind.

Fahrmodi und ABS-Stufen

Während die Unterschiede bei den Fahrmodi noch nicht gravierend sind und man zwischen Sport (Straße: direkteres Ansprechen, hohes Drehmoment für Fahren im mittleren Drehzahlbereich, stärkere Motorbremse), Track (mittlere Stufe) und Race (Rennstrecke: Racebike-Konfiguration für dauerhaft hohes Drehzahlniveau, schwache Motorbremse) keine bösen Überraschungen erleben wird, kann es beim ABS über Sieg und Niederlegen entscheiden, auf welcher Stufe es operiert.

Auf Level 1 sind das ABS am Hinterrad und die Schräglagenfunktion deaktiviert und ein Überschlag wird beim Extremzangeln nicht verhindert. Level 2 verhindert einen Überschlag progressiv. Bis 80 km/h zu 100%, von 80 bis 120 lässt der Rechner das Abheben des Hinterrades immer stärker zu. Zudem sind die Schräglagenfunktion und das ABS am Hinterrad wieder aktiv. Erst bei Level 3 stehen einem alle Sicherheitsfeatures des Bremssystems zu 100% zur Verfügung, das mit der neuen 330 mm-Scheibe wahnsinnig hart verzögert. Echte Racer und Puristen können das ABS auch ganz abschalten, es muss aber beachtet werden, dass die EURO4-Norm die Re-Aktivierung von ABS bei einem Neustart vorschreibt.

Schau genau auf die Einstellungen!

Als ich im zweiten Turn mit 2.. km/h auf die erste Kurve zugenagelt bin und ganz entsetzt war, dass das Hinterrad abhebt und das Bike zu tanzen beginnt wie ein Regenwurm auf der heißen Herdplatte, war ABS-Level 1 aktiv, während ich dachte, es wäre Level 3. So kann man sich täuschen. Also vor dem Rollout immer ein Auge auf das jetzt bunte Display werfen.

Farbdisplay mit Schräglagen-, Brems- und Beschleunigungsmessung

Und schon haben wir ein Grundgesetz definiert: Was man vor der Fahrt machen MUSS, DARF man beim Fahren auf keinen Fall machen, also aufs Display schauen. Zwei wählbare Oberflächen rücken die Geschwindigkeit (Straße) oder die Rundenzeit (Rennstrecke) in den Vordergrund, die restlichen Elemente sind aber bis auf die Ganganzeige am rechten Rand so klein, dass sie bei einem schnellen Blick nicht fassbar sind. Lieber danach die Tabelle mit den gefahrenen Zeiten , Höchstgeschwindigkeiten und maximalen Schräglagen abrufen.

Neuer Sensor

Da die technische Präsentation kurz und in Italienglisch phasenweise schwer verständlich war, beschäftigte ich mich in der Mittagspause mit den Einstellmöglichkeiten der Elektronik, die ihre Infos nun über einen neuen Sensor erhält, der nun auch über 6 Freiheitsgrade verfügt, Längsbeschleunigung und Querbeschleunigung jetzt auch die Längsneigung des Motorrades (Nickachse) misst.

TC und Wheelie-Control während der Fahrt anpassen

Traktionskontrolle und Wheeliekontrolle können mit eigenen Schaltern während der Fahrt und sogar bei geöffnetem Gasgriff verstellt werden, die TC in 8 und die WC in 3 Stufen. Das auszutesten war mir auf dieser Strecke mangels weiter Radien nicht möglich. Der Rest wird mit einem kleinen Joystick direkt oder über das Menü ausgewählt. Wer möchte, der kann die RSV4 mit dem Smartphone verbinden und das Motorrad Kurve für Kurve elektronisch auf eine gewählte Rennstrecke anpassen, was sicher ein wenig Zeit in Anspruch nimmt. Nach ein paar Minuten sollte man aber die grundsätzlichen Funktionen des Systems begriffen haben. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt: Es versteckt sich auch ein Tempomat an Board dieses Superbikes. Und jetzt wollen wir darüber den Mantel des Schweigens ausbreiten…

Quirlig und gierig wuselt die Aprilia durchs Winkelwerk und scheint zu schreien: Schneller, noch schneller!!! Man denkt fast, man hätte die Pflicht, ihrer Ansage Folge zu leisten. Definitiv ein Motorrad, das einen antreibt, was auf der Rennstrecke eine durchaus positive Eigenschaft ist, auf der öffentlichen Straße aber muss man sich und die Rakete im Griff haben was natürlich für alle Bikes in dieser Liga gilt.

RSV4 passt perfekt

Geometrisch und anatomisch passt mir die RSV4 RF wie mein neues Held Full-Speed-Leder. Es kommt nicht von ungefähr, dass die RSV RR vergangenes Jahr das erste Motorrad war, mit dem ich den Elbow-Slide geschafft habe. Ich habe in ihrem Sattel das Gefühl, als wäre es ein auf mich persönlich abgestimmtes Rennmotorrad. Die Position der Fußrasten, Höhe und Neigung der Sitzbank, die Kröpfung des Lenkers, die Form des Tanks und des Windschilds, es passt mir einfach alles. Da ich 1.80 m groß bin, also exaktes Mittelmaß, werden sich wohl auch Piloten zwischen 1.75 bis 1.85 sehr wohl fühlen, was natürlich stark von der Länge der Gliedmaßen abhängig ist.

Minimales Eingreifen

Zwei Turns fuhr ich mit den Einstellungen TC:1, WC:1 und ABS:1, Launch-Control und Pit-Limiter wurden nicht gebraucht, die neue Blipper-Funktion des sauberst abgestimmten Schaltautomaten ließ ich immer aktiv. Letzterer ist das gemeinste Elektronikfeature, da man ihn, erst mal dran gewöhnt, nicht mehr missen möchte. Er macht nicht nur subjektiv, sondern tatsächlich schneller. Mit den oben genannten Einstellungen kann man fast völlig frei agieren, nur im Notfall greifen die Systeme je nach Situation ein. Mit stärker regelnder Traktionskontrolle habe ich sie ein paar Mal recht deutlich gespürt, ansonsten war ich sehr froh, dass die kleinen Mainzelmännchen mit an Bord waren, wenn ich in Turbulenzen geriet.

Schließlich beeindruckte mich die RSV4 wieder mit ihrem Handling, zumal die Strecke abschnittsweise wirklich eng war, die Aprilia die Wechselkurven aber präzise und leichtfüßig abfertigte wie eine 600er. Ein 201 PS-Superbike braucht aber eindeutig mehr Auslauf und so wird sich auf schnellen, flüssigen Strecken wie Brünn oder Slovakiaring erst zeigen, wie sich die RSV4 RF verhält. Viel Zeit zum Atmen wird aber auch dort nicht bleiben.

Alle Fahrsicherheitshilfen der Aprilia RSV4 RF auf einen Blick:

  • Neu - Aprilia Traction Control (ATC) Lässt sich nun auch bei geöffnetem Gas, also ohne den Gasgriff zudrehen zu müssen, achtfach verstellen.
  • Neu - Aprilia Wheelie Control (AWC) In drei Levels verstellbar, spricht noch besser an, kann nun so wie die Traktionskontrolle während der Fahrt, ohne den Gasgriff zudrehen zu müssen, eingestellt werden.
  • Neu - Aprilia Launch Control (ALC) Dreifach einstellbar, sensibleres Ansprechen
  • Neu - Aprilia Quick Shift (AQS) Der Schaltautomat nun auch mit einer Blipper-Funktion, die das Herunterschalten ohne Betätigung der Kupplung erlaubt.
  • Neu - Aprilia Pit Limiter (APL) Damit kann die erlaubte Geschwindigkeit in der Boxengasse auf der Rennstrecke eingestellt und somit nicht überschritten werden.
  • Neu - Aprilia Cruise Control (ACC) Nun auch auf dem potenten Superbike ein Tempomat, der die Reise oder die "Überführungsetappen" angenehmer macht.
  • Neu - farbiges TFT-Display Zwei einstellbare Modi (Road und Race)

Fazit: Aprilia RSV4 RF 2017

Die Aprilia RSV4 RF ist eine kompakte Kraft-Rakete, die nach einer kundigen Hand verlangt, um ihre Stärken perfekt einsetzen zu können. An der Front wird sie beim Beschleunigen gerne unruhig, was man mit der richtigen Gewichtsverlagerung und Lockerheit am Lenker in den Griff bekommt. Brutale Beschleunigung vor beeindruckender Soundkulisse (mit Akrapovic-Auspuff) trifft in der Bremszone dank gewachsener 330er Scheiben auf harte Verzögerung. Im Eingang sticht die RSV präzise in den Radius und reagiert in Wechselkurven beinahe wie eine 600er. Die zahlreichen elektronischen Fahrhilfen verlangen nach etwas Beschäftigung und fordern Aufmerksamkeit, welche Einstellungen man gerade gespeichert hat.


  • geiler, drehfreudiger Motor
  • starke Bremsen
  • Top-Fahrwerk
  • herrlicher Sound
  • volles Elektronikpaket
  • Schaltautomat mit Blipper
  • angenehme Ergonomie
  • beim Beschleunigen unruhiges Vorderrad
  • zuviel Information für zu kleines Display

Bericht vom 21.03.2017 | 71.469 Aufrufe

Empfohlene Berichte

Pfeil links Pfeil rechts